Schrei nach Liebe! Warum die Arschlöcher von morgen die Kinder von heute sind

von | Sep 20, 2015 | 1 Kommentar

Es ist Freitag, der 14. August. Die Sonne scheint und es ist warm. Im Autoradio läuft „Schrei nach Liebe“. Altbekannte Klänge. Ich summe mit. Es schüttelt mich kurz. Ich drehe lauter: „O-o-ooh, Arschloch!“. Unweigerlich tauchen die Bilder vor mir auf, die wahrscheinlich jeder sieht, wenn er dieses Lied hört. Die Bilder aus den Nachrichten über den sogenannten „braunen Mob“, über „besorgte“ Bürger und angezündete Flüchtlingsheime. Gänsehaut. Ich drehe lauter.

„Warum hast du Angst vorm Streicheln, was soll all der Terz?“ 
Bilder aus den Kriegsgebieten, alles tausend mal gesehen, irgendwo, so weit weg. „Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe….“ Ein Schauer nach dem anderen jagt mir jetzt das Rückenmark hinunter. „deine Springerstiefel sehnen sich nach Zärtlichkeit.“ Verdammt, denke ich und sehe die Gesichter von Kindern vor mir, denen nicht zugehört wird, die absichtlich nicht gesehen werden. „Du hast nie gelernt dich zu artikulieren.“ Ich sehe mein eigenes Kind, das schon so groß ist und noch so viel Nähe braucht, das jede Nacht versucht in mich hineinzukriechen und nach schlechten Träumen nach meiner Hand greift. „und deine Eltern hatten niemals für dich Zeit!“ Plötzlich werde ich geschüttelt von Gefühlen, kann mich gerade so aufs Fahren konzentrieren. Ich drehe auf und singe laut: „O-o-ooh… ARSCHLOCH!“ Billionen Trilliarden kleine Feuerwerke explodieren auf meiner Haut. Ich denke, hey, so muss es sich anfühlen, wenn man etwas wirklich versteht. Wenn jede Zelle jedes Wort vollumfänglich begreift. Da ist ein Zusammenhang, zwischen all dem was da draußen und hinter unseren Türen passiert.

***

Natürlich habe ich „Schrei nach Liebe“ auch vorher schon verstanden, kognitiv gesehen. Da geht es um Nazis, also Idioten, die – weil sie in ihrer Kindheit nicht genug Zuwendung bekamen – ihren Hass und ihre Wut auf Schwächere übertragen, um sich selbst besser zu fühlen. Simple Küchenpsychologie.
Dank der Aktion Arschloch, die Ende August von einem Musiklehrer ins Leben gerufen wurde, läuft dieser Song die Radiostationen wieder rauf und runter. Er wird zum Soundtrack für den Zeitgeist 2015, der uns wie ein kalter Windzug über den Nacken zieht – jedes Mal, wenn wir die Nachrichten einschalten. Für mich ist das Lied der Impulsgeber für diesen Artikel.

Aktion Arschloch, Blogger für Flüchtlinge

#aktionarschloch, #bloggerfuerfluechtlinge

Heute ist Weltkindertag. Zeit den Ärzte-Kracher einmal von einer anderen Perspektive unter die Lupe zu nehmen. Ich muss zugeben: seit ich selbst ein Kind habe, ist da dieser Tunnelblick. Ich sehe nun alles durch die emotionale Brille einer Mutter. Vorher verband ich mit dem Lied Faschisten, die ‚mal wieder klar kommen und aufhören sollen rumzuheulen. Heute ist mir vor allen Dingen absolut unverständlich, wie eine Gesellschaft erwarten kann, dass Kinder, die man wie minderwertige Menschen behandelt, später einmal KEINE Arschlöcher werden. (Dabei sind Nazis noch das kleinere Übel, stellt man sie denen gegenüber, die es als Arschloch schaffen zum Beispiel über die Politik ganzer Kontinente zu entscheiden…)

Will man aus einem kleinen Bündel Leben ein Arschloch von morgen machen, muss man bloß konsequent seine Bedürfnisse ignorieren. Dann muss man den Müttern und Vätern dieser Kinder erzählen, dass sie die Kleinen auf keinen Fall verwöhnen dürften, dass sie sie auch mal schreien lassen müssten und dass ein Klaps noch niemandem geschadet hätte. Dann muss man nur konsequent darauf achten, dass man das Kind stehen lässt, wenn es in den Arm genommen werden möchte, dass man es auslacht, wenn ihm ein Missgeschick widerfährt und dass man es regelmäßig unterbricht, wenn es etwas zu erzählen hat. Außerdem muss man dem Kind immer wieder vermitteln, dass seine Art zu denken und seine Meinung der eines Erwachsenen stets unterlegen ist. Und natürlich muss man es belohnen, wenn es sich richtig verhalten, und bestrafen, wenn es sich falsch verhalten hat.
Kurz gesagt: man muss einfach nur fest davon überzeugt sein, dass Kinder kleine Arschlöcher (oder Tyrannen) sind und schon besitzt man die richtige geistige Haltung, um den Kleinen vorzuleben, wie aus kleinen richtig große Arschlöcher werden.
Und wenn das Kind sein Arschlochsein später nicht gegen andere richtet, dann zumindest gegen sich selbst. Auch sehr praktisch.

Nun gut, ich will mal nicht so sein. Noch bis vor wenigen Jahren war man davon überzeugt, Kinder MÜSSTEN genau so erzogen werden, um eben keine Arschlöcher zu werden.
Die neuesten Erkenntnisse aus z. b. der Bindungsforschung haben es einfach noch sehr schwer gegen die Bilder in unseren Köpfen anzukommen. Diese Bilder über Kinder und den Umgang mit ihnen sitzen uns genauso tief in den Knochen, wie unsere eigenen frühen Erfahrungen, die uns prägten und die es uns so schwer machen uns neue Verhaltensmuster anzueignen.

Darüber hinaus ist dieses Thema natürlich auch wesentlich komplexer als einige Zeilen zuvor so polemisch und plakativ von mir dargestellt. Aber keine Sorge, es gibt da ein simples Konzept mit dem wir alle etwas anfangen können und das wirklich schnell zu begreifen ist: das Konzept der Vorbilder.
Kinder sind evolutionsbiologisch dazu programmiert, das zu imitieren, was sie vorgelebt bekommen. Das sicherte einst ihr physisches und soziales Überleben.
Wenn ich also möchte, dass ein Kind später zu einem Erwachsenen wird, das die Werte anderer Menschen schätzt, dann wertschätze ich – jetzt in diesem Augenblick – die Dinge, die diesem Kind wichtig sind. Wenn ich möchte, dass es andere und sich selbst(!) mit Respekt behandelt, dann behandle ich es selbst mit Respekt. Ich lache weder über seine kindlichen Gefühle, noch setze ich mich gewaltvoll über seine persönlichen Grenzen hinweg. Ich höre zu, wenn es etwas zu sagen hat und antworte so gewissenhaft und ehrlich wie ich kann.
Um das zu tun muss man keine eigenen Kinder haben. Fangt an beim Nachbarskind, dem Kind im Supermarkt oder in der S-Bahn, bei den Kindern, die wir täglich in ein Klassenzimmer stecken, in welchem sie UNS zuhören müssen, bei den Kindern, die für ein bisschen Frieden unter den bekannten Umständen zu uns nach Deutschland kommen.
Beobachtet euch genau (beschäftigt euch von mir aus mit Entwicklungspsychologie und der Bindungsforschung) und macht euch bewusst, wie ihr mit euren Mitmenschen umgeht bzw. umgehen wollt, egal wie jung sie sind.

Die Nazis von heute können wir in der Regel nicht mehr retten aber die Arschlöcher von morgen sind vermeidbar.

***


Hier noch eine kleine, spontane und wirklich bescheidene Linkliste, die zumindest erahnen lässt, auf welche vielschichtige Art und Weise man dem „Arschlochproblem“ begegnen kann.

Vielleicht wird dieser Artikel ja doch ein wenig öfter gelesen und motiviert einige dazu die Liste zu befüllen.

Inspirationen zur Vermeidung von Arschlöchern…

… in Bezug auf die aktuelle Flüchtlingsproblematik und Fremdenfeindlichkeit:

… in Bezug auf den Start ins Leben:
(mein persönliches Herzensthema Nr. 1: Geburtshilfe in Deutschland – denn die Art und Weise, wie eine Mutter ihr Kind zur Welt bringen durfte, beeinflusst mitunter stark den weiteren Umgang mit ihrem Kind)


… in Bezug auf einen bedürfnisorientierten Umgang mit Kindern:
(mein persönliches Herzensthema Nr. 2 – und ein beispielhafter Auszug der dazugehörigen Blogs und Persönlichkeiten, die dabei helfen, unser Bild über Kindererziehung Stück für Stück auf den Kopf zu stellen)

in Bezug auf…? Jetzt seid ihr gefragt. Füllt diese Liste mit Leben!

Martina Bürger

1 Kommentar

  1. Ihr Artikel spricht uns alle an, die Gesellschaft zum Besseren zu verändern, indem wir Liebe und Empathie verbreiten. Es sind kleine Schritte, die einen großen Unterschied machen können. Vielen Dank, dass Sie uns daran erinnern, dass wir alle einen Beitrag leisten können, um eine Welt zu gestalten, in der Hass und Gewalt keinen Platz haben.

    Antworten

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert